Ich hatte sprichwörtlich einen Seelenverwandten, also einen Verwandten, der mich beseelt hat: mein Öpi! Mein Öpi war ein fröhlicher, sehr fantasievoller Mensch, der Geschichten - wer weiß woher - einfach aus dem Hut zaubern konnte und mit mir zum Lachen, ebenfalls sprichwörtlich, in den Keller ging. Er war ein toller Erzähler! Allzeit bereit und unermüdlich hat er mir von wundersamen Wesen und deren abenteuerlichen Geschichten berichtet. Er hat mir auch vorgelesen. Aber darin war er eher nicht so gut. Gelesen hat er nämlich immer nur die ersten paar Zeilen. Danach hat er jedes Märchen lieber zu seiner Geschichte gemacht und mir erzählt, wie es sich wirklich zugetragen haben soll. Er war mein Held, mein Zauberer, mein Tor zu einer anderen verwunschenen Welt. Er starb als ich kaum 11 Jahre alt war. Als Kind verdrängt man. Als Kind vergisst man. Aber Öpi´s Welt lebte wohl sehr lebendig in mir weiter, denn der Ruf der Großen "Du wirst wohl nie erwachsen!" begleitete mich viele Jahre. Die Aussage irritierte mich stets und wirkte auf mich wie ein Tadel. Ich war doch nur Ich. War das denn nicht gut so?
Im Alter von 18 Jahren zog ich in meine erste eigene Wohnung. Ich wohnte noch gar nicht lange allein, als ich begann außergewöhnlich oft und intensiv an meinen lieben Öpi zu denken. Viele Erinnerungen liefen wie ein Film vor meinem inneren Auge ab und manchmal war er mir so präsent, als würde er neben mir auf dem Sofa sitzen. Diese Phase dauert so an die sechs Monate. Eines Tages hielt ich ein altes Foto von ihm und mir in der Hand. Ich fühlte mich sehr geliebt und verstanden und auch allein gelassen. Wie von selbst formten sich die Worte in meinem Kopf und ich setzte mich an den Schreibtisch und schrieb dieses Gedicht für ihn: Ich trage dich im Herzen bei Tag und bei Nacht, Du hast mir so vieles beigebracht. Geschichten und Märchen erzähltest du mir, meine bunte Fantasie, die hab´ ich von Dir. Das Lachen im Keller, es fehlt mir so, die Zeit mit Dir war immer froh. Ich wünschte, Du könntest mich heut´ sehn und mir auf meinem Weg zur Seite stehn! Dir Frieden im Himmel, ich denke an Dich und hoffe, Du bist stolz auf mich. Was diese gedankenintensive Zeit bedeutete und wie sehr sich mein Wunsch nach seiner Präsenz erfüllen würde, sollte ich erst 17 Jahre später begreifen. Heute weiß ich: Ich hatte geerbt. Mein Öpi kam zu mir als ich 18 Jahre alt war, eine Zeit, in der wir entscheiden, wer wir einmal sein wollen. Er kam zu mir und vermachte mir seinen riesigen Geschichtengarten. Ich hatte ihn fast vergessen und es deshalb nicht gleich verstanden. Damals sah ich wohl das offene Tor, aber dahinter nur ein buntes Wirrwarr und so bin ich nicht hinein gegangen. Stattdessen bin ich erwachsen geworden. So vergingen die Jahre. Zurück blickend weiß ich, dass mein Öpi nie von meiner Seite wich. Geduldig hat er mich meine Erfahrungen machen lassen. Nie war er böse, dass ich sein Erbe nicht antrat und seinen Geschichtengarten derart vernachlässigte. Aber immer wenn ich traurig oder in eine Sackgasse geraten war und nicht weiter wusste, da lenkte er meinen Blick auf das offene Gartentor. Hindurch gegangen bin ich nicht - bis vor 3 Jahren. Ich war gerade von Potsdam nach Lauf bei Nürnberg gezogen. Fern der Heimat, ohne Freunde und Hobbies erhoffte ich mir vielleicht, in dem alten Geschichtengarten etwas Vertrautes zu finden. Ich trat also ein in Öpi´s Garten und betrachtete mein Erbe. Außer dem bekannten bunten Wirrwarr konnte ich nichts erkennen. Alles war verschwommen und seltsam still. Hätte ich damals meinen Öpi dort nicht so wohltuend an meiner Seite gespürt, ich wäre sicher nicht wieder hin gegangen. So aber kam ich immer mal wieder, um mich weniger allein zu fühlen. Je öfter ich nun durch das Tor in den Garten ging, umso mehr entdeckte ich: Da waren plötzlich Bäume, Blumen und Sträucher, blühende Hecken, weiches Gras und im Wind wogende Halme. Jedes Mal kamen auch mehr Geräusche hinzu: der Wind in den Blättern, das Knacken im Holz, Vogelgezwitscher, das Zirpen der Grillen, das Rascheln der Igel, überhaupt waren da immer mehr Tiere. Ich weiß nicht, was den Geschichtengarten zum Leben erweckte. Oder war es nie ein anderer als dieser gewesen? Ich besuchte meinen Garten immer öfter, erkundete alle Winkel, ich ging viele Wege, längst nicht alle und kannte mich nach einiger Zeit ganz gut aus. An einem dieser warmen Frühlingstage durchstreifte ich ihn wieder einmal, legte mich auf eine Wiese und lauschte dem mir so lieb gewordenen Summen und Säuseln im Garten. Ich sah hinauf in die Wolken und suchte in ihnen Gestalten, wie ich es als Kind so oft getan hatte. Ich lag also da, schaute und lauschte; wen würde es da wundern, wenn ich dachte, ich träumte als ich plötzlich Stimmen vernahm. Sie waren sehr leise. Als ich mich aufsetzte und umschaute, verloren sie sich sogleich im Rauschen des Windes. Seltsam! Hatte ich mir das nur eingebildet? Nun, dass dem ganz und gar nicht so war, sollte ich bald erfahren. Denn von nun an hörte ich dieses wunderliche Wispern, wann immer ich mich im Garten hinsetzte. Und es verschwand sofort, sobald ich die Geräuschquelle ergründen wollte. "Ich werde hoffentlich nicht verrückt!" betete ich im Stillen. So ging es Tage und Wochen. Aus anfänglicher Neugier wurde Ärger und schließlich beschloss ich, sollte ich diese Stimmen noch einmal hören, würde ich sie einfach ignorieren. Eine Weile ging ich nicht mehr in den Geschichtengarten. Inzwischen war Sommer geworden und an einem Tag, an dem die Hitze in den Bäumen hing, das Gemüt schläfrig und die Glieder müde waren, ging ich doch wieder einmal hin geradewegs zum Gartenteich. Dort legte ich mich nieder, schloss die Augen und spielte verträumt mit den Zehen im Wasser. Ich summte leise vor mich hin und war ganz zufrieden. Da...ganz in der Nähe, dicht bei meinem Ohr, da vernahm ich leise Stimmen. Ja, doch! Ich war ganz sicher. Es waren zwei; zwei piepsige Stimmen unterhielten sich. Am liebsten hätte ich die Augen aufgerissen und sogleich nachgesehen. Doch dass dies nichts bringen würde, hatte ich ja schon zu genüge erfahren. Ich kniff also die Augen fest zusammen und spitzte die Ohren. Ich vernahm die Stimmen ganz deutlich, konnte aber kein Wort ausmachen. Was war das für eine Sprache? Ich lauschte gespannt weiter. Oh, was war das? Mir war, als würden winzig kleine Schritte näher und näher kommen. Die Spannung in meinem Körper stieg, aber ich rührte mich kein Stück. Was ging hier vor sich? Huch! Irgendetwas war soeben auf meiner Nase gelandet...hihi wie das kribbelte. Jetzt siegte doch die Neugier und so öffnete ich ganz laaaaangsam und nur einen winzigen Spalt breit mein rechtes Augen. Ein Schmetterling - es war ein wunderschöner Schmetterling! Ich öffnete nun beide Augen, setzte mich auf und schielte das kleine Kerlchen auf meiner Nase an. "Welch seltsame Begebenheit" dachte ich noch, als der kleine Schmetterling plötzlich sagte: Hallo Schlafmütze! Wie schön, dass du endlich aufgewacht bist! Mit einem Satz war ich auf den Beinen und zum Gartentor hinaus! Ich bin ein fantasievoller Mensch, das wusste ich. Aber das ging zu weit! Irgend- etwas musste dort in diesem Garten wachsen, dass mir die Sinne vernebelte. Anders waren diese Vorkommnisse nicht mehr zu erklären. Es war bereits Herbst bis ich mich das nächste Mal dazu bewegen konnte, zum Garten zu gehen. Vor dem Winter sollte ich wenigstens kurz nach dem Rechten sehen. Als ich nun vor dem Gartentor stand, war es dort ungewöhnlich still. Gerade wollte ich nach dem Torriegel greifen, als sich ein dünner Weidenast danach reckte und den Riegel anhob. Gleich flog ein halbes Dutzend Tauben herbei und öffnete das Tor. Dahinter saß ein Fuchs am Wegesrand. Der schaute mich vielsagend an und trottete dann langsam in Richtung Wäldchen davon. Wie verzaubert folgte ich ihm tief hinein in den Geschichtengarten. Auf einer Lichtung schließlich blieben wir stehen. Die Sonne schien durch ein Wolkenloch direkt auf die kleine Wiese vor mir, an dessen Rand unzählige Tiere, kleine Wesen und sagenhafte Gestalten saßen, und sie alle schauten mich erwartungsvoll an. Ein hundsgroßer Stein rollte an meine Seite und grinste mich an. Ich war wie versteinert. Konnte das wahr sein? Da kam wieder der kleine Schmetterling geflogen. Er umtanzte mich freudig in schwungvollen Kreisen und ich musste mich auf den lächelnden Stein setzen - mir war ganz schwindelig. Der kleine Flattermann setzte sich endlich auf mein Knie und sagte in einer mir seltsam vertrauten Stimme: Willkommen Sandra! Willkommen zurück in Deinem Geschichtengarten! Da rückten all die Wesen des Gartens ganz nah zu mir heran und sie begrüßten mich herzlich, wie ich es nie zuvor erlebt habe. Ich sei "endlich wieder Zuhause" drang es in mein Ohr. Zuhause? Ja, Zuhause! Genau so fühlte es sich mit einem Mal an. Ich streckte beide Hände aus, umarmte meine Freunde und schloss sie alle in mein Herz. Seither gehe ich sooft ich kann in meinem Geschichtengarten. Dort lehne ich mich an einen Baum und höre den Wesen zu, wenn sie von ihren wilden Abenteuern berichten, erstaunliche Geschichten und so manches überliefertes Märchen erzählen. Einiges von dem, was ich dort belausche, teile ich mit Euch. Aber pssst...woher diese Geschichten kommen, das bleibt unser kleines Geheimnis! Urheberin: Sandra Marzec
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AutorinMein Name ist Sandra Marzec. Ich bin Geschichtenerzählerin, Personal/Life Coach, Entspannungstrainerin und Schreiberin :) ArchivKategorien |